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Freitag, 30. August 2024

Harald Wolf, Parrhesia und logon didonai*

Freimütig soll man über alles reden, zumal über das, was uns alle gemeinsam angeht, und auch und gerade, wenn’s dabei riskant wird; und begründen und rechtfertigen soll man sein Reden und Handeln, zumal, wenn’s von anderen (oder auch von sich selbst) in Frage gestellt wird: Kerne des (griechischen) demokratischen Ethos, die Alice Pechriggl in ihrem Buch Castoriadis: Denker der Revolution - Revolution des Denkens (transcript, Bielefeld 2022), auch weil es Maximen Castoriadis‘ waren, zu Recht immer wieder anspricht.

In der letzten Kolumne „Was wirklich wichtig sein könnte“ der "Hefte für Autonomie" haben wir eine längere parrhesiastische Auseinandersetzung unter anderem mit diesem Buch von Alice Pechriggl und ihrem Versuch, Castoriadis als Revolutionsdenker und Denkrevolutionär zu „vergegenwärtigen“, veröffentlicht (Im Labyrinth, Nr. 7, S. 83-97). Eine Diskussion, die an dieser Stelle zu dokumentieren wäre, ergab sich aber aus dieser Polemik, man darf sagen: erwartungsgemäß, nicht; übermittelt wurden uns bloß ein paar zustimmende Kürzeststatements. Auch Alice Pechriggl meldete sich gleich nach Erscheinen des Heftes per E-Mail, mit einigen Anmerkungen. Unser Angebot, diese E-Mail abzudrucken, lehnte sie aber ab, woraufhin wir ihr die Veröffentlichung einer längeren Replik vorschlugen. Sie stimmte dem zu und kündigte an, diese Replik, wenn ihr das möglich sei, rechtzeitig abzuliefern. Das war leider nicht der Fall.

* Zuerst erschienen im August 2024 in der Kolumne »Arbeit der Vorbereitung« von Im Labyrinth - Hefte für Autonomie, Nr. 8, S. 119 f. 

 

Montag, 14. August 2023

Harald Wolf, Die Übersetzungskünstler*

Was war die Aufgabe? Bereits mehrmals hatte ich Im Labyrinth angekündigt, über »neuere Literatur mit und über Castoriadis« zu informieren und meine Lektüreerfahrungen mitzuteilen. Dafür habe ich mich verpflichtet, einige Bücher zu lesen und zu kommentieren. Nach vielen vergeblichen Anläufen, sie von A bis Z akribisch durchzugehen, habe ich schließlich aufgegeben.

Warum die Aufgabe? Weil die Bücher meiner Ansicht nach in mehrerlei Hinsicht Ausdruck und Symptom der wirklich abgrundtiefen Misere sind, in die der Wissenschaftsbetrieb und die Universitäten in den letzten Jahrzehnten geraten sind – und in die sie im Zuge ihrer weiteren »Ökonomisierung« und Verwandlung in »digital sciences and humanities« nur immer tiefer versinken können. Und das heißt vor allem: dass die Lektüren fast durchweg ein Martyrium darstellten, das »am Stück« nicht lange auszuhalten war – zumindest für den undisziplinierten Außenseiter. Die besagte Misere gebiert – in Anlehnung an das Wort von den »Ablenkungskünstlern« formuliert – Übersetzungskünstler ganz eigener Art. Um deren in Ausübung ihrer Künste kreierten Verballhornungen des Werks von Castoriadis soll es im Folgenden gehen.

[Hier kann der ganze Text gelesen werden [PDF].]

* Zuerst erschienen im August 2023 in der Kolumne »Was wirklich wichtig sein könnte« von Im Labyrinth - Hefte für Autonomie, Nr. 7, S. 83-97.

Dienstag, 16. November 2021

Harald Wolf, L'Auberge Corona*

 Ein »Tsunami«, ein »Naturereignis«, ein »Angriff der Natur« brachte in den ersten Monaten des Jahres 2020 ganze Länder »zum Stillstand«, die seitdem einen Krieg gegen die sie angreifende Natur führen. Der Angreifer ist das #Coronavirus, und allein die »Logik des Virus« diktiert die Kampfmaßnahmen. »Panik? It’s the logic, stupid.« (Der Spiegel, 14.3.2020, S. 6) Damit war die erschreckend stupide Logik und der gemeinsame Nenner von fast allem, was man uns (und was wir uns) nun schon fast ein Jahr lang in die Ohren und in die Augen legt (und uns legen sollen), in ein paar unsinnigen Schlagwörtern verdichtet bereits frühzeitig zusammengefasst. Willkommen – bis der Impfstoff kommt – in der Auberge Corona! 

In die nie ein ernstzunehmender Naturwissenschaftler einziehen würde, weil sie oder er genau weiß, dass kein Virus »angreifen« kann und dass es nicht die »Logik des Virus« ist, sondern die (Un-)Logik und die »Naturgesetze« seiner gesellschaftlichen Umwelt, welche »auf der Bewußtlosigkeit der Beteiligten beruh[en]« , die über seine Weiterverbreitung und seine Auswirkungen auf die Gesundheit menschlicher Populationen entscheiden. Über die Unlogik dieser globalen gesellschaftlichen Umwelt wäre also zu sprechen gewesen: als Hotspot der Entstehung und pandemischen Ausbreitung zoonotischer Infektionskrankheiten – von denen »Covid« nicht die letzte, sondern eine der ersten gewesen sein wird; und als Hotspot der Formen, Folgen und Opfer eines zunehmend autoritären und vielerorts ungeheuer inkompetenten polit-medizinisch-ökonomisch-medialen »Krisenmanagements«, das dann in alptraumhafter Vertiefung des »langen Schlafs der ›Demokratien‹« (Castoriadis, Im Labyrinth, Nr. 4, S. 13-15) über die Menschheit hereinbrach – und ahnen lässt, was uns noch alles – auch angesichts der ökologischen Zuspitzungen – bevorsteht.

[Hier kann weitergelesen werden [PDF]]

* Zuerst erschienen im Dezember 2020 in der Kolumne »Was wirklich wichtig sein könnte« von Im Labyrinth – Hefte für Autonomie, Nr. 4, S. 100-103. 


Montag, 8. Februar 2021

Cornelius Castoriadis, Der große Schlaf der »Demokratien«*

Die Blindheit der Menschheit angesichts der katastrophalen Probleme, mit denen sie konfrontiert ist, ist beispiellos. Der Nichtigkeit der Politikerreden entspricht die Bedeutungslosigkeit der Themen, die die Intellektuellen, Politologen und Philosophen umtreiben. Die Zivilisation, der Reichtum und die »Demokratie«, über die sich alle endlos auslassen, sind das Vorrecht höchstens eines Achtels der Menschheit. Die restlichen sieben Achtel leben in Elend, Hunger und Tyrannei. Reichtum und »Demokratie« des ersten Achtels hängen von internationalen strategischen und ökonomischen Gleichgewichten ab, deren Anfälligkeit offensichtlich ist. Sie sind in Wahrheit erkauft durch irreversible Zerstörungen der Erde. Damit die einen weiterhin gemästet werden können und die anderen nicht gleich alle an Hunger sterben, werden die Wälder vernichtet, die Tiere und Pflanzen zu Zigtausenden ausgerottet, wird die Zusammensetzung der Atmosphäre, das Klima und die Temperatur von todbringenden Veränderungen bedroht und die Umweltverschmutzung zum allgemeinen Phänomen.

In den reichen Ländern ist psychische und moralische Verarmung an die Stelle materiellen Elends getreten. Nicht, dass letzteres verschwunden wäre; man hat geschafft, es auf 10 bis 20 Prozent der Bevölkerung zu konzentrieren. Der Rest kann sich so weiterhin der konsumistischen und televisuellen Selbstbefriedigung hingeben. Apathie, Zynismus, Verantwortungslosigkeit, Privatisierung und Gleichgültigkeit gegenüber den gemeinsamen Angelegenheiten sind die Charakteristika des zeitgenössischen »Zappanthropos«, eines neuen, rasch sich ausbreitenden Typus des Menschseins, verherrlichtes Produkt wie Bedingung der Herrschaft des »liberalen Individualismus« zugleich.

»Demokratische« Gesellschaften: In Wahrheit sind sie liberale Oligarchien. Liberal, weil sie die institutionellen Ergebnisse der großen demokratischen und sozialen Kämpfe der Vergangenheit bewahren. Oligarchien, weil die Zahl derer, die an der tatsächlichen (wirtschaftlichen, politischen und »kulturellen« Medien-) Machtausübung beteiligt sind, minimal ist. Von den [im Jahr 1989] 37 Millionen [erwachsenen] Bürgern Frankreichs zum Beispiel üben keine 37.000 Personen (eine von 1.000) irgendeine nennenswerte Macht aus. Die Zahl liegt wohl näher bei 3.700 (eine von 10.000) – eine Relation, die die römische Oligarchie vor Neid erblassen ließe.

Das bisschen politische Nörgelei und die geringfügigen Interessenunterschiede zwischen den Clans verdecken die grundsätzliche Solidarität der verschiedenen Gruppen, die Deals miteinander machen. Und während sie durch diese oder jene Maßnahme regelmäßig die Stimmen oder die Duldung einer in korporatistische Organisationen und Lobbys auseinanderfallenden Bevölkerung kaufen, verteidigt jeder krampfhaft, was er für seine Interessen hält. Das Ganze bildet offensichtlich ein System. Der Rückzug der Individuen ins Private stützt die Oligarchien, die diesen Rückzug ins Private wiederum aktiv fördern. Dahinter steckt keine Verschwörung: Diese Entwicklung ist nur möglich, weil diese Faktoren sich gegenseitig stützen. Unter diesen Umständen ist es naiv, sich zu fragen, warum es eine Spaltung zwischen Volk und »politischer Klasse« gibt. Die »Ideen« der Politiker sind mit bloßem Auge nicht zu erkennen; ihre durchaus vorhandenen Unterschiede sind mikroskopisch. Das Regime selbst – das »repräsentative« Regime – ist dafür gemacht, die Leute aus den öffentlichen Angelegenheiten herauszuhalten. Die wahre gesellschaftlich-geschichtliche Zeit – die Zeit der Ungewissheit und eines Entwurfs – ist verdeckt. Für die Zeit der Werbung gilt: »Morgen ist schon heute«, wie es ein wunderbarer Slogan von Philips ausdrückt.

Triumph des »liberalen« und »individualistischen« Imaginären. »Die Modernen erstreben Sicherheit der privaten Genüsse [jouissances]; sie bezeichnen als Freiheit die Rechtsgarantien, die die Institutionen diesen Genüssen gewähren«, schrieb Benjamin Constant 1819 zustimmend.(1) Genau da sind wir nun endlich gelandet. Aber wie lange wird man sich dieser Garantien, dieser Genüsse noch erfreuen? Das System funktioniert, weil es immer noch Arbeiter gibt, die Schrauben festdrehen, Lehrer, die lehren, Richter, die Recht sprechen – während nichts in der vorherrschenden Mentalität und »Moral« sie dazu motivieren könnte, so etwas zu tun. Das System überlebt, weil es menschliche Verhaltensweisen aus der Vergangenheit ausbeutet, die es zugleich lächerlich macht und die es nicht reproduzieren kann. Auf lange Sicht kann nicht einmal die kapitalistische Wirtschaft weiter funktionieren, wenn mit Spekulationsgeschäften oder dem Promoten von Madonna leichter Geld zu verdienen ist als mit der Gründung von Unternehmen.

Setzt er sich fort, kann der rasende Schlaf der Menschheit nur Ungeheuer gebären.


Anmerkungen

* »Le grand sommeil des ›democracies‹«, zuerst erschienen in: L’Express vom 7. April 1989. Wiederabgedruckt in: Cornelius Castoriadis, Écologie et politique, suivi de correspondances et compléments (Écrits politiques, 1945-1997, VII), herausgegeben von Enrique Escobar, Myrto Gondicas und Pascal Vernay, Éditions du Sandre, Paris 2020, S. 405-407. Auf Deutsch zuerst erschienen: Im Labyrinth, Nr. 4 (2020), S. 13-15. (Aus dem Französischen von Harald Wolf.)
(1) Benjamin Constant, »De la liberté des anciens comparée à celle des modernes« (dt.: »Über die Freiheit der Alten im Vergleich zu der der Heutigen«, in: Benjamin Constant, Werke IV, Frankfurt/Berlin/Wien 1972, S. 363-396, hier: S. 381 f. Der von Castoriadis zitierten Formulierung gehen folgende Sätze bei Constant voraus: »Das, was die Alten anstrebten, war die Verteilung der staatlichen Gewalt unter alle Bürger eines Landes. Das war es, was sie Freiheit nannten.« Vgl. vor allem Cornelius Castoriadis, »Das griechische und das moderne politische Imaginäre« (1991), in: Philosophie, Demokratie, Poiesis. Ausgewählte Schriften 4, Lich 2011, S. 93-121 (Anmerkung des Übersetzers).

Samstag, 7. April 2018

Mai 68: La brèche


Einmal mehr naht sie wieder: die Zeit der Nachrufe auf "1968". Bei dieser Gelegenheit soll hier auf einen der meiner Ansicht nach luzidesten Versuche, sich einen Reim auf dieses Datum zu machen, hingewiesen und seine Lektüre empfohlen werden, und zwar zur Abwechslung einen zeitgenössischen: Unter dem Titel Mai 68: La brèche publizierten Edgar Morin, Claude Lefort und Cornelius Castoriadis (unter dem Pseudonym Jean-Marc Coudray) bereits im selben Jahr ihre Analysen des "Pariser Mai". Der Beitrag von Castoriadis trägt den Titel "La révolution anticipée", "Die vorweggenommene Revolution".

"Der 'Mai 68' schlug eine Bresche ins Gebäude der herrschenden kapitalistischen Unordnung und öffnete den Weg zu einem selbstbestimmten Leben. Geblieben davon ist vor allem ein wiederkehrendes Jubiläumsspektakel. Cornelius Castoriadis hat in 'Die vorweggenommene Revolution' bereits inmitten der 'Ereignisse' die ambivalente Bedeutung des 'Mai 68' hellsichtig analysiert: die Fluchtlinien einer autonomen Gesellschaft, die sich hier abzeichneten, aber auch die Gefahren der Vereinnahmung und Erneuerung von Herrschaft. 20 Jahre später hat er in einer Polemik gegen postume Verfälschungen ('Die Bewegungen der sechziger Jahre') nochmals energisch auf die vergessene emanzipatorische Bedeutung hingewiesen. Deren Wiederbelebung ist heute überfällig - und dafür enthalten die beiden Castoriadis-Texte wertvolle Anregungen."

So steht es auf dem Umschlag des vor zehn Jahren im Verlag Syndikat-A erschienenen Bändchens Mai 68 | Die vorweggenommene Revolution, das die beiden Aufsätze von Castoriadis enthält und immer noch lieferbar ist. Auch Claude Leforts Beitrag zu dem Gemeinschaftswerk ist damals - unter dem Titel Die Bresche - in deutscher Übersetzung erschienen. Sie haben über die bleibende Bedeutung der damaligen politischen Explosion immer noch mehr zu sagen als ein Großteil der späteren und heutigen Darstellungen und Aufbereitungen.  

Sonntag, 12. November 2017

Russland 1917: Die Bolschewiki und die Arbeiterkontrolle


100 Jahre ist es nun her, dass die russische Revolution einen entscheidenden welthistorischen Einschnitt zu markieren schien, der zu den weitreichendsten und hochfliegendsten Befreiungshoffnungen Anlass gab - die indes bald schon gründlich, grausam und blutig zerstört werden sollten. Vielleicht sind ja alle Revolutionsjubiläen ohnehin konterrevolutionär (Ilja Kalinin); jedenfalls kommt anlässlich des russischen überwiegend verwelkter Unsinn, zurückhaltend ausgedrückt, zu Tage bzw. wird recycelt und so mancher Abgrund tut sich schrecklich gähnend auf (als nicht weiter zu kommentierender hier beispielsweise der von Dietmar Dath).

Das hängt sicherlich auch damit zusammen, dass die aus der russischen Revolution schließlich als siegreich hervorgegangenen Kräfte ein besonders intimes Verhältnis zu gezielt fabriziertem Unsinn und zur politischen Lüge unterhielten. Als sichtbares Zeichen dessen sei bloß an den Namen des sich herausbildenden neuen Staates erinnert: UdSSR. "Vier Buchstaben - vier Lügen!", kommentierten etwa Boris Souvarine (als erster?) oder später Cornelius Castoriadis diese Selbstbezeichnung. Denn weder handelte es sich hier ja um eine Union (als Vereinigung Gleicher), noch um Sozialismus, Sowjet-, d.h. Rätemacht, oder um Republiken. Wenn etwas als dauerhaft und bis heute im Grunde überall weiterhin siegreich an dieser Machtergreifung sich herausstellte, dann solche fraglos akzeptierten öffentlichen Lügen.

Auch und nicht zuletzt der Begriff der "Arbeiterkontrolle" gehört in die Reihe solcher ideologischen Mystifikationen und Verblödungsmechanismen, die heute längst Allgemeingut aller massenmedialen Manipulationstechniken sind. Es ist das bleibende Verdienst von Maurice Brinton (d.i. Christopher Pallis), derartige Mystifikationen am zentralen Beispiel dieses Begriffskomplexes nüchtern und umfassend dokumentiert und überaus wirkungsvoll destruiert zu haben. Angesichts des vielen Jubiläums-Unsinns und der erwähnten Abgründe besteht aller Grund, an seine Schrift Die Bolschewiki und die Arbeiterkontrolle (zuerst 1970) zu erinnern und diese hier in elektronischer Form zur Verfügung zu stellen, damit sie (wieder-)gelesen werden kann.

Sonntag, 23. Oktober 2016

Harald Wolf: Die ungarische Revolution und der Autonomieentwurf


Am 23. Oktober 2016  jährt sich zum 60. Mal der Ausbruch der ungarischen Revolution von 1956 -  ein würdiger Anlass zum Rückblick und zur politischen Reflexion. Die ungarische Revolution markiert einen tiefen Einschnitt in der Geschichte des osteuropäischen Realsozialismus, ihre welthistorische Bedeutung steht außer Zweifel. Dass sie im kollektiven Gedächtnis dennoch keinen rechten Platz hat, ist symptomatisch. Es wirft ein Licht auf das heute vorherrschende Verhältnis zur Vergangenheit - und auf den generellen „Anstieg der Bedeutungslosigkeit“ in einer Gegenwart, die allen Fragen, die für unsere gesellschaftliche Entwicklung und Zukunft von substantieller Bedeutung sind, konsequent ausweicht und einem besinnungslosen "business as usual" folgt. Eine solche substantielle Frage - die politische Frage per se - hatte die ungarische Revolution, wie ein Blitz aus dem düsteren Kalte-Kriegs-Himmel der 1950er Jahre mit Macht auf die geschichtliche Tagesordnung gestellt: die Frage nach realer Demokratie und nach einer selbstbestimmten Gesellschaft.

Was aber ist bis heute der Hauptsinn, den man den Ereignissen von 1956 in Ungarn gibt? Den einer frühen und heroischen Etappe im letzten Endes - durch den Zusammenbruch der UdSSR und die Auflösung des Warschauer Pakts - erfolgreichen Kampf um nationale Unabhängigkeit von der totalitären sowjetischen Unterdrückung. 1989/90 – Abschaffung des Einparteiensystems, Einführung der westlichen Form des Kapitalismus und Abzug der sowjetischen Truppen – wird in dieser Sichtweise zur Erfüllung der Hoffnungen und Forderungen von 1956. Der Hauptsinn von Ungarn 56 liegt – jedenfalls für uns – jedoch anderswo: im Streben nach Autonomie und radikaler Demokratie. Die ungarische Revolution war nämlich ein weiteres Beispiel jener bahnbrechenden Momente revolutionärer Spontaneität der arbeitenden Bevölkerung, in denen mit der Rätedemokratie eine neue Form gesellschaftlicher Selbstinstitution aufgetaucht und kurze Zeit erprobt worden war, wie zuvor etwa in Russland 1917/18 oder in Spanien 1936. Der vorsichtigen Entstalinisierung von oben setzen im Juni 1956 die Arbeiterinnen und Arbeiter im polnischen Poznán eine resolute Bewegung von unten entgegen. Ihr Streik wird militärisch niedergeschlagen, stößt aber politische Reformen an und ist für viele in Osteuropa ein Fanal. Mit einer Solidaritätskundgebung für die Polen beginnt am 23. Oktober in Budapest die ungarische Revolution - eine Kette spontaner Aktionen, an denen sich fast alle Schichten der Bevölkerung beteiligen und die binnen kurzem den bisher alles beherrschenden Partei- und Staatsapparat pulverisiert. Bis Ende Oktober entstehen überall Räte, die sich daran machen, die Idee wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Selbstbestimmung in die Tat umzusetzen.

Diese spontanen Ansätze zu einem demokratisch-selbstbestimmten Neubeginn wurden freilich schon im November von russischen Panzern in Schutt und Asche gelegt. Die Bresche, die die ungarische Revolution ins Gebäude der im Kalten Krieg erstarrten Nachkriegsgesellschaften und in Richtung eines autonomen Gemeinwesens geschlagen hatte, war schon wenige Monate später, nach der Entmachtung und Auflösung der letzten revolutionären Räte, wieder geschlossen. Im Osten wurde die ungarische Revolution als Konterrevolution denunziert und später totgeschwiegen, im Westen als nationalistische Volkserhebung zu vereinnahmen versucht. Diese Vereinnahmungstradition setzt heute in Ungarn das autoritäre Orbán-Regime schamlos fort. Aber auch von den Intellektuellen wird sie - abgesehen von wenigen rühmlichen Ausnahmen, wie derjenigen von Castoriadis oder Hannah Arendt - kaum gewürdigt und bald vergessen.

Was ist heute noch aus diesen Erfahrungen zu lernen, worin besteht die Aktualität der ungarischen Revolution? Es bieten sich verschiedene Anknüpfungspunkte für eine vergegenwärtigende Diskussion an, die wir auf einer Veranstaltung am 29. Oktober 2016 in Berlin führen wollen (und für die jetzt vorliegende neue Castoriadis-Übersetzungen Material liefern). Einige Parallelen zum Schicksal der syrischen Revolution scheinen mir frappierend zu sein. Stephen Hastings-King hat in einem erhellenden Beitrag über "The Syrian Revolution and the Project of Autonomy" einen Satz von Yassin al-haj Saleh aufgegriffen: „Syria is a methaphor for a global crisis of representation.“ Wirklicher Dissens und Widerstand werden heute entweder durch bestimmte mediale Mechanismen de-thematisiert und de-repräsentiert oder aber brutal vernichtet und ausgelöscht. Beides verstärkt sich gegenseitig und führt so auf die eine oder andere Weise zum Verschwinden und raschen Vergessen. Im sanften Autoritarismus, der in den liberalen Oligarchien des Westens inzwischen herrscht, beobachten wir ersteres; im harten Autoritarismus, der in unterschiedlicher Couleur die übrige Welt dominiert, permanent letzteres. 1956 spielten – in der Terminologie von Castoriadis – der westliche fragmentierte und der östliche totale bürokratische Kapitalismus, gegen den die Ungarn sich erhoben, die entsprechenden Rollen. Und wie seinerzeit die der ungarischen, so führt heute die Vernichtung der – 2011 im „arabischen Frühling“ begonnenen – syrischen demokratischen Revolution zu einer gewaltigen Flüchtlingsbewegung und weltweiten Diaspora, die freilich den sanften kapitalistischen Autoritarismus der Metropolen von heute nachhaltiger erschüttern und „heimsuchen“ könnte als damals die ungarische.*

* Nachbemerkung am 27.10.16: Wie ich gerade erst sehe, findet einen Tag nach unserer Ungarn-Veranstaltung (also am 30.10.) passender Weise ebenfalls im Haus der Demokratie und Menschenrechte eine Podiumsdiskussion unter dem Titel "Was bewegt die aufständische Bevölkerung in Syrien - auch heute noch? Wie könnte Solidarität aussehen?" statt.

Montag, 6. Juni 2016

Andrea Gabler/Harald Wolf, An Anthology Unpublished: Who Is Afraid of "Socialisme ou Barbarie"?


Once upon a time, in the 50s and 60s of the bygone century, there were some bold people united in a tiny revolutionary group in France calling itself „Socialisme ou Barbarie“ („Socialism or Barbarism“). In dark times, in a journal of the same name they published seminal analyses of the Eastern and Western capitalistic systems of oppression and exploitation calling out to sabotage and abolish these systems.

A decade ago (2007), former members of „Socialisme ou Barbarie“ - Helen Arnold, Daniel Blanchard, Enrique Escobar, Daniel Ferrand, Georges Petit, and Jacques Signorelli - edited an anthology of texts published in the journal in the French publishing house Acratie (La Bussière), with texts, amongst others, by Cornelius Castoriadis, Claude Lefort, Jean-François Lyotard, and Daniel Mothé. Now, after a long time and initiated by David Curtis, for many years the translator and editor of Castoriadis’ writings, and by Richard Greeman, director of the International Victor Serge Foundation, there should have been published an extended English edition of this anthology, translated by Curtis, at Pluto Press, London.

But the publication of this edition, already announced in the autumn preview of Pluto Press, is now being stopped. The contracts on which this project was based were nullified in an apparently unilateral manner by the Victor Serge Foundation and Pluto Press. A grave act indeed, for which one can expect explanatory statements. What has happened?
(Here you can continue [PDF].)

Montag, 24. März 2014

Ulf Martin: Kapital als Institution pseudorationaler Kontrolle

Übersicht eines Beitrags zum Castoriadis-Workshop im März 2014 in Berlin

1 Castoriadis zu Ereignissen nach 1970

Ich beginne mit einigen Beobachtungen von Castoriadis aus «Die ‹Rationalität› des Kapitalismus» [FR1997D] (alle Hervorhebungen von mir).

(1) Zum Kapitalismus insgesamt heisst es:
[D]ie zentrale gesellschaftlich imaginäre Bedeutung des Kapitalismus [können wir] als Drang nach grenzenloser Ausweitung «rationaler Kontrolle» bestimmen.

(2) Castoriadis konstatiert eine «ideologische Regression» im Bereich der Ökonomie (und der Politik- wissenschaften):
Dinge, die man aus gutem Grund für gesicherte Erkenntnis halten konnte, wie die vernichtende Kritik der Cambridger Schule (Sraffa, Robinson, Kahn, Keynes, Kalecki, Shackle, Kaldor, Pasinetti usw.) an der akademischen Volkswirtschaftslehre zwischen 1930 und 1965, werden nicht etwa diskutiert oder widerlegt, sondern schlicht dem Schweigen oder Vergessen überantwortet, während Erfindungen von unerhörter Naivität, wie die «Angebotsökonomie» oder der «Monetarismus», das Geschehen bestimmen, und gleichzeitig die Herolde des Neoliberalismus ihre Absurditäten als Gebote des gesunden Menschenverstandes darstellen und die absolute Freiheit der Kapitalbewegungen dabei ist, ganze Produktionszweige in fast allen Ländern zu ruinieren und die Weltwirtschaft sich in ein globales Kasino verwandelt.

(3) Die Wirtschaftspolitik auf der Grundlage der Schriften von Keynes & Co. sind lebensnotwendig für den Kapitalismus, die Regression hätte verhindert werden können:
Erst nach dem Zweiten Weltkrieg sind mehr oder minder regelmässige Lohnerhöhungen und eine staatliche Regulierung der Gesamtnachfrage von der Unternehmerschaft und den Wirtschaftsexperten allgemein akzeptiert worden. Resultat war die längste, nahezu ununterbrochene kapitalistische Expansionsphase («die dreissig glorreichen Jahre»). Wie Kalecki bereits 1943 vorhergesehen hatte, sollte daraus ein zunehmender Druck auf Löhne und Preise erwachsen, was ab den sechziger Jahren auch offenkundig wurde. Es gibt keinen Beleg dafür, da dieser nicht durch eine gemässigte Politik hätte verringert werden können.

(4) Seit den 1970ern erleben wir «den ungehemmten Triumph des kapitalistischen Imaginären in sei- nen krassesten Formen.»

(Hier kann weitergelesen werden [PDF].)

Samstag, 22. März 2014

David Ames Curtis: The Theme of "The Rising Tide of Insignificancy" in the Work of Cornelius Castoriadis

Excerpts from a contribution for the Castoriadis workshop at Berlin in March 2014

The theme of a “rising tide of insignificancy” might at first appear merely part of the dyspeptic ramblings of a disappointed and bitter old man nearing the end of his life. Nothing, however, could be further from the truth. A brief anecdote illustrates this point. At a gathering a few years after Castoriadis’s death, a former Socialisme ou Barbarie member complained to me that this seemingly pessimistic “insignificancy” theme took Castoriadis far afield from his earlier political concerns. Yet, this comrade was asked in turn: What does the “socialism or barbarism” alternative indicate but that, throughout his life, such barbarism was for Castoriadis an ever-present tendency of modern-day society, to be ignored at our peril? The comrade had no reply.
(Here you can continue [PDF].)

Dienstag, 18. März 2014

Hans Joachim Sperling: Das Einschluss-/Ausschluss-Paradox revisited and/or reloaded

Argumentationsskizze zu einem Beitrag für den Castoriadis-Workshop im März 2014 in Berlin

Ausgangspunkt des Beitrags ist das in den Arbeiten von Castoriadis stets prominent und präsent gebliebene theoretisch und praktisch relevante Konzept des Einschluss-Ausschluss-Paradoxons. Es akzentuiert den Kapitalismus als Herrschafts- und Kontrollordnung, die gleichzeitig Ansätze einer auf Autonomie gerichteten Selbstorganisation in sich birgt. Resümierend basiert es auf der Überzeugung Castoriadis, „dass in der bürokratisch-kapitalistischen Gesellschaftsformation die strukturelle Trennung von Leitungs- und Ausführungsfunktionen letztlich alle Tätigkeiten in der Produktion und Reproduktion des gesellschaftlichen Lebens prägt – und dass diese Trennung den Kern der sozialen Problematik dieser Formation bildet. Hier lagen für ihn der zentrale Widerspruch und die Dynamik dieses Systems begründet: ein Widerspruch, der die Keime des Autonomieentwurfs enthält, und eine Dynamik von Konflikten, in denen diese Keime zur Entfaltung gebracht werden können. Denn jene Trennung bewirkt eine Paradoxie: Sie hat zur Folge, dass die Arbeitenden den Kapitalismus am Leben erhalten, indem sie gegen dessen Normen verstoßen. Der Kapitalismus kann nur funktionieren, solange die Ausgebeuteten gegen die ihnen aufgezwungenen Abläufe kämpfen. Genau darin ist laut Castoriadis der Grund für die Dauerkrise des Kapitalismus zu suchen, und genau darin liegt für ihn auch der Grund dafür, weshalb der Kapitalismus eine revolutionäre Perspektive in Richtung Autonomie eröffnet“ (Harald Wolf).
(Hier kann weitergelesen werden [PDF].)

Freitag, 14. März 2014

Stephen Hastings-King: The Project of Autonomy in a Time of Fading Empire

Abstract of a contribution to the Castoriadis workshop in March 2014 at Berlin

This paper has two main sections with a transitional space that links them.  The first presents my forthcoming book, Looking for the Proletariat: Socialisme ou Barbarie and The Problem of Worker Writing.  The transitional space involves labyrinths.  The second main section outlines the prospects for the project of autonomy in the present, a time of fading empires.  It is a kind of exhortation.

The project of autonomy is the over-arching theme.  Socialisme ou Barbarie articulated a version from within a Marxist context: a contemporary project of autonomy that might look to SouB confronts the problem of the closure of the Marxist Imaginary.  One of the motifs is an exploration of what this closure entails.

The following is a condensed version of the presentation.  It is comprised of elements pulled from the paper that touch on most, but not all, of the main themes.  While they are in order, there is often material in the paper that will appear between the elements. The transitional section, on crossroads in labyrinths, is not included.
(Here you can continue [PDF].)

Harald Wolf: Kapitalismus als imaginäre Institution

Kurzfassung eines Beitrags für den Castoriadis-Workshop im März 2014 in Berlin

Die politische Urerfahrung von Cornelius Castoriadis ist die Erfahrung eines Pseudo-Antikapitalismus (in Gestalt der kommunistischen Parteien und realsozialistischen Staaten), der sich als Radikalisierung und Totalisierung von Kernmerkmalen des modernen Kapitalismus entpuppt hatte: der bürokratischen Organisation und des gesellschaftlichen Prozesses der Bürokratisierung. Diesem Phänomen der Bürokratisierung ist mit den von Marx und den Marxisten überlieferten theoretischen Werkzeugen nicht wirklich beizukommen, und das bedeutet: Der Dreh- und Angelpunkt des modernen Kapitalismus liegt jenseits der Grenzen (oder im „blinden Fleck“) der traditionellen marxistischen Theorie. Bei dem Versuch, ein theoretisches Sensorium für dieses Kernphänomen der modernen Gesellschaft zu entwickeln, stößt Castoriadis auf weitere, noch grundsätzlichere Grenzen des traditionellen Marxismus, ja der traditionellen Theoriebildung überhaupt. Sein Versuch, diese Grenzen zu überwinden, mündet in die Konzepte des Imaginären und der imaginären Institution.

Aus dieser theoretischen Verarbeitung der Katastrophengeschichte des 20. Jahrhunderts durch Castoriadis ergeben sich Konsequenzen für unser Kapitalismusverständnis, die das Was und das Wie der Kapitalismustheorie betreffen. Diese Konsequenzen möchte ich in meinem Beitrag skizzieren, um daran dann einige Überlegungen über die heutige Situation anzuknüpfen und zu fragen: Was ist noch aktuell an der Castoriadis’schen Neuausrichtung der Kapitalismustheorie für das Verständnis des Gegenwartskapitalismus?
 (Hier kann weitergelesen werden [PDF].)

Dienstag, 14. Januar 2014

Vor 50 Jahren: "Der eindimensionale Mensch" und...

Vor 50 Jahren, 1964, erschien Herbert Marcuses One Dimensional Man. Marcuses "Studien zur Ideologie der fortgeschrittenen Industriegesellschaft" wurden in der sich radikalisierenden Studentenbewegung - so will es zumindest die Folklore - intensiv studiert und diskutiert. Das Buch hat viele Neuauflagen erlebt, in Deutschland, wo die Kritische Theorie für die Studenten- und Jugendbewegung besonders wichtig war, aber auch in Frankreich. Dort scheint ihm seinerzeit allerdings - zumindest von den Aktivisten des Mai 68 - doch weniger Aufmerksamkeit zuteil geworden zu sein. "Wie Daniel Cohn-Bendit mir (…) damals erzählte", so Detlev Claussen anlässlich des Publikationsjubiläums des Eindimensionalen Menschen jüngst in der taz: "Kein Mensch hatte bei uns das Ding gelesen."

Das heißt ganz sicher nicht, dass die Franzosen, zumal die sich politisch radikalisierenden, damals nicht gelesen hätten. Aber sie haben einen etwas anderen Lesestoff bevorzugt - auch Daniel Cohn-Bendit, der seinerzeit - tempora mutantur! - in Frankreich bekanntlich eine Galionsfigur der studentischen Revolte und Mitglied der wichtigen "Bewegung des 22. März" war: Sein Bruder Gabriel und er haben inmitten der 68er "Ereignisse" schon stolz darauf hingewiesen, dass ihre politischen Vorstellungen sich maßgeblich auf die Thesen gründen würden, die sie bei Cornelius Castoriadis, Daniel Mothé und Claude Lefort in der Zeitschrift Socialisme ou Barbarie gefunden hätten. "Wir sind nur Plagiatoren der revolutionären Theorie und Praxis der letzten fünfzig Jahre, die in der einen oder anderen Weise durch diese Zeitschriften [sie nennen neben S. ou B. u. a. noch 'Internationale situationniste', 'Informations et correspondences ouvrières' und 'Noir et Rouge'] vermittelt wurden." (Daniel und Gabriel Cohn-Bendit, Linksradikalismus. Gewaltkur gegen die Alterskrankheit des Kommunismus, Reinbek bei Hamburg 1968, S. 19) Wer mag, findet hier noch etwas mehr Material über solche und andere Rezeptionszusammenhänge.

Dienstag, 5. November 2013

Kapitalismus und Befreiung - nach Castoriadis

Der Kapitalismus ist in der Krise. Die Emanzipationsbewegungen auch. Da rettet uns kein höheres Wesen - kein Gott, kein Kaiser noch Tribun. Und natürlich auch kein Castoriadis. Kann Castoriadis aber vielleicht dabei helfen, sich einen Reim auf die vertrackte Lage zu machen und kann er Hinweise auf mögliche Auswege der Selbstrettung geben? Das ist die Ausgangsvermutung, die die Planungen zu einem Workshop anleitet, der im März 2014 in Berlin stattfinden soll. Anlass für den Workshop ist das Erscheinen von Band 6 der Ausgewählten Schriften von Castoriadis unter dem Titel Kapitalismus als imaginäre Institution Anfang nächsten Jahres.

Am letzten Wochenende trafen sich einige VSFA-Mitglieder und Interessierte, um über die Themen zu sprechen, die bei diesem Workshop debattiert werden sollten. Die ersten Arbeitstitel dafür lauten: "Kapitalismus und Krise - nach Castoriadis", "Das Einschluss-/Ausschluss-Paradox revisited and/or reloaded", "Die Bewegung zur Autonomie: Wie entwickelte sie sich? Wo stehen wir heute?" und "Der Anstieg der Bedeutungslosigkeit heute". Die geplanten Beiträge zu diesen Themen sind nun in der Mache, und die Zwischenergebnisse sollen in Kürze auf diesem Blog zur Diskussion gestellt werden. 

Mittwoch, 12. Dezember 2012

80 Jahre "Esprit"

Die französische Zeitschrift Esprit ist 80 Jahre alt geworden. Aus diesem Anlass fand eine Veranstaltung über einige unerwartete Verbindungen - über "compagnonages inattendus" - dieser Zeitschrift mit einigen bekannteren Intellektuellen statt: Foucault, Illich und Castoriadis. Auf der Webseite von Esprit kann man sich die interessanten Beiträge anhören. François Dosse, unter anderem Autor einer Geschichte des Strukturalismus, und Daniel Mothé, seinerzeit Mitglied der Gruppe Socialisme ou Barbarie, wichtiger Autor der gleichnamigen Zeitschrift und später Arbeitssoziologe, sprechen über Castoriadis und dessen Beziehung zu Esprit. Man erfährt u.a. am Rande, dass Dosse offenbar an einer "intellektuellen Biographie" von Castoriadis arbeitet.

Freitag, 30. November 2012

Nachholende Antikritik

Vor fast vier Jahren hatte ich hier mit einer Kritik an der "Kritik an Cornelius Castoriadis" - so der Untertitel ihres Buches - von Michael Sommer und Dieter Wolf begonnen und eine Fortsetzung angekündigt (Blog vom 15. Dezember 2008). Die Fortsetzung blieb aus. Dafür bitte ich vor allem die um Entschuldigung, die hier immer wieder einmal deswegen nachgeschaut haben (siehe die Kommentare zu dem Blog) - und auch die Autoren, die eine kritische Würdigung erwarten durften.  Sie kann jetzt, verspätet, nachgeholt werden.

Durch Zufall habe ich erfahren, dass Karl Reitter, Redakteur der Wiener grundrisse (zeitschrift für linke theorie & debatte), seinerzeit eine Rezension des Buches verfasst hatte, die aber bislang unveröffentlicht  geblieben ist. Karl Reitter beschäftigt sich schon lange mit Castoriadis und hat vor über zwanzig Jahren zusammen mit Alice Pechriggl den Sammelband Die Institution des Imaginären. Zur Philosophie von Cornelius Castoriadis herausgegeben (Wien: Turia & Kant 1991). Im letzten Jahr erschien seine umfangreiche Studie Prozesse der Befreiung. Marx, Spinoza und die Bedingungen eines freien Gemeinwesens im Verlag Westfälisches Dampfboot. Wer seine Rezension liest und sie mit meinem damaligen Blog vergleicht, wird sehen, dass wir uns bei der Lektüre ähnliche Fragen stellten und zu ähnlichen Antworten auf den Text tendieren - die aber von Karl ausführlich und klar formuliert und begründet werden. Es freute mich daher sehr, als er einer Publikation auf der agora zustimmte. So kommt es hier nun doch noch zu einer ausführlichen Antikritik an Sommers und Wolfs Kritik.    

Karl Reitter: Besprechung von Michael Sommer/Dieter Wolf, "Imaginäre Bedeutungen und historische Schranken der Erkenntnis"


Michael Sommer und Dieter Wolf versuchen in ihrem Buch, die Kritik von Cornelius Castoriadis an Marx ihrerseits einer Kritik zu unterziehen. Ein solches Unterfangen ist prinzipiell zu begrüßen. Castoriadis zählte zu den wirklich eigenständigen Denkern, der unbeeindruckt vom hegemonialen (post)strukturalistischen Diskurs in Frankreich seine Philosophie des Imaginären entwickelte. Dabei setzte er sich bewusst zwischen alle Stühle; er kritisierte Strukturalismus wie Poststrukturalismus, Marx sowieso; seine Bezüge zur Psychoanalyse fungierten nur als ein Moment seiner Philosophie, zu wenig, um bloß als Philosoph der Freudschen Lehre akademisch rezipiert zu werden. Der Habermas-Strömung wiederum war sein Ansatz schon deswegen verdächtig, da er sich als Ontologie versteht – kurzum: wir haben es bei Castoriadis mit einem wirklich kreativen und eigenständigen Denker zu tun, der zum Glück niemals als Modephilosoph gehandelt wurde.

Castoriadis war Jahrzehnte mit dem Werk von Marx verbunden, zuerst als Trotzkist und später als Mitherausgeber von Socialisme ou Barbarie, einem Organ, das die Ideen vorformulierte, die später im Mai 68 aufgegriffen und weiter transformiert werden sollten. Von Marx, ebenso wie von Lacan, in dessen Umkreis er sich auch eine Zeit bewegte,  musste er sich offenbar etwas gewaltsam losreißen; dies war offenbar der einzige Weg, seine eigenen Gedanken zu entwickeln. Seine Kritik an Marx war auch recht harsch und umfassend, aber der Ton täuscht. Castoriadis ist viel marxistischer geblieben, als es den Anschein hat. Eine Kritik an der Marxrezeption von Castoriadis hätte also die Chance geboten, die Einseitigkeiten dieser Kritik aufzuzeigen, zugleich aber die tatsächlichen Probleme bei Marx, die Castoriadis scharfsinnig herausarbeitet, zu diskutieren. Im letzten Satz klingt bereits an, dass diese Buchbesprechung nicht so ganz positiv ausfallen kann. So ist es leider auch. Die beiden Autoren erweisen mir zwar die Ehre, meinen alten Artikel zur abstrakten Arbeit, erschienen in den grundrissen, Nr. 1, ausführlich zu kritisieren. Auch wenn es für mich Schelte nur so hagelt, so stimmt das Interesse doch milde und freundlich. Trotzdem – es tut mir leid das sagen zu müssen: das Buch ist misslungen.

Warum? Ich bezweifle, ob jene Leserinnen und Leser, die Castoriadis nicht kennen, sich während dieser Lektüre nur im entferntesten ein Bild machen können, worum es Castoriadis eigentlich ging. Ich wäre fast versucht, eine Blitzeinführung in das Denken von Castoriadis einzuschieben, ein Unterfangen, das nicht in eine Buchbesprechung gezwängt werden kann. Daher nur ein paar Bemerkungen: Der zentrale Begriff des Imaginären hat mit einem Lacanschen Ab- oder Zerrbild nicht zu tun. Das Imaginäre bei Castoriadis kittet keinen Bruch oder konstituiert eine Spaltung des Subjekts, sondern meint das schöpferische (Ein)Bildungsvermögen der Menschen. Obwohl negative Definitionen immer problematisch sind, möchte ich sie nun doch verwenden: Wir können uns dem Begriff von Seiten der radikalen Kritik am Funktionalismus nähern: Gesellschaft kann nicht so gedacht werden, dass sie ein fest stehendes Set von Bedürfnissen befriedigt und von Problemen löst. Probleme und Bedürfnisse haben zwar immer eine objektive Seite (in jeder nur denkbaren Gesellschaft müssen die Menschen z.B. essen), aber die gesellschaftlichen Institutionen (Institutionen im weitesten Sinne gedacht, so ist z.B. die Kunst oder die Wissenschaft ebenfalls eine Institution) gehen niemals in funktionalen Bezügen auf. Wenn etwa Popper behauptet: „Alles Leben ist Problemlösen“ sind für Castoriadis diese „Probleme“ (auch) Produkt des Imaginären, sie sind also selbst geschichtlich und wandelbar und keineswegs objektiv in einem umfassenden und strikten Sinne. Die gesellschaftliche Wirklichkeit ist also letztlich durch keinerlei natürliche, objektive Bedingungen festgelegt oder determiniert, obwohl sie sich an die Natur „anlehnen“ muss. (Ein Gedanke, den Marx mit der Allseitigkeit des Menschen in den „Pariser Manuskripten“ ebenso  ausspricht.) Den Terminus „Anlehnung“ entnimmt Castoriadis von Freud. An diesem Punkt setzt nun Castoriadis wichtige Unterscheidung zwischen Autonomie und Heteronomie ein. Das Imaginäre ist an sich weder gut noch schlecht. Autonomie beruht nun auf der Erkenntnis, dass unsere gesellschaftlichen Institutionen künstlich, geschaffen oder geschöpft, und daher veränderbar sind. Autonomie ist die Form der Reflexion, das Nachdenken und Nachsinnen über die gesellschaftlichen Formen. Diese Form der Reflexion muss aber konkret in gesellschaftlichen Einrichtungen realisiert werden: das nennt Castoriadis dann Demokratie. Eine heteronome Gesellschaft hingegen hält ihre Einrichtungen für gottgewollt, oder, auf moderne Verhältnisse bezogen, der Vernunft entsprechend. Eine heteronome Gesellschaft kann durchaus Parlamente, Wahlen und Abstimmungen kennen, solange die Geschaffenheit, die Künstlichkeit der Institutionen und Formen, z.B. der Lohnarbeit, nicht erkannt und damit als veränderbar angesehen wird, solange herrscht Heteronomie. Der Gegensatz von Autonomie und Heteronomie wirkt aber auch innerhalb der jeweiligen Institutionen, auch im Individuum selbst – das ist Castoriadis’ Bezug zur Psychoanalyse. Es ist letztlich eine sehr umfassend ausgearbeitete Entfremdungsfigur, die seinem Denken zugrunde liegt.

Eine Skizze der Philosophie von Castoriadis, selbst eine nur sehr allgemeine, legen die Autoren leider nicht vor. Sie setzen sofort mit ihrer Kritik an Castoriadis ein, ohne seine Denkmittel darzustellen und zu erläutern. Castoriadis interpretiert Marx in seinem Hauptwerk „Gesellschaft als imaginäre Institution“ als extremen Hegelianer. Genauer, er meint, es gäbe bei Marx zwar gegenläufige Momente, letztlich würde aber der Hegelianismus, den er als strikte deterministische Sichtweise interpretiert, die Oberhand gewinnen. Damit, so Castoriadis weiter, wäre die Offenheit der Zukunft abgeschafft, das Drehbuch sei schon geschrieben, die Rollen verteilt, das Proletariat müsse das Stück nur noch aufführen. Sehr elegant und klug zeigt nun Castoriadis die philosophischen und ethischen Konsequenzen dieses Ansatzes auf. Ich meine, dass Castoradis Marx sehr einseitig und selektiv darstellt, aber es gibt diese Elemente bei Marx durchaus. Welche Rolle sie im Gesamtwerk von Marx einnehmen, wäre zu diskutieren. Aber sie existieren. So kann Castoriadis auf  bekannte Aussagen von Marx verweisen, etwa auf seine Zustimmung zur Aussage eines russischen Rezensenten des „Kapitals“, Marx würde die gesellschaftliche Bewegung als einen naturgeschichtlichen Prozess betrachten, der vom Willen, Wollen und dem Bewusstsein der Menschen völlig unabhängig sei. Castoriadis interpretiert solche Thesen als die eigentliche philosophische Substanz des Marxismus. Wenn solche Formulierungen tatsächlich das letzte Wort von Marx wären, hätte Castoriadis recht: das Tun, das Handeln der Menschen, ihre Fähigkeit, das Neue zu schöpfen, wäre undenkbar, ein Hirngespinst. Befreiung – und das ist das entscheidende – würde sich im Vollzug bereits feststehender, fix und fertiger Wahrheiten erschöpfen: der Revolutionsprozess würde zum sozialtechnologischen Unternehmen. Dagegen versucht Castoriadis, durchaus ähnlich wie Holloway, das Handeln und Tun sozialphilosophisch zu rehabilitieren. Wir dürfen auch nicht vergessen, dass Castoriadis seinerzeit gegen ein philosophisches Milieu in Paris anschrieb, in dem etwa folgende Aussagen von Althusser als neueste Erkenntnis gepriesen wurden: „Daher sind wir auch imstande, die Zukunft zu antizipieren und nicht nur allgemein die Theorie der Zukunft, sondern vor allem die Theorie der Mittel und Wege zu ihrer Verwirklichung zu entwerfen.“ (Althusser/Balibar, „Das Kapital lesen“; 267) Castoriadis anerkennt wohl die anderen Momente bei Marx. Die Menschen machen ihre Geschichte zwar unter vorgefundenen Gegebenheiten, aber sie können diese Gegebenheiten überschreiten: „Mit diesem Moment wird es möglich, in der Pariser Commune und den russischen Sowjets nicht nur episodenhafte Erhebungen, sondern die Schöpfung neuer Formen des gesellschaftlichen Lebens durch die Aktionen der Massen zu erkennen.“ (Castoriadis, „Gesellschaft als imaginäre Institution“; 96) Aber diese mussten aufgrund der herkömmlichen Ontologie, der auch Marx verhaftet blieb, die das radikal Neue nicht denken kann (oder will), einem deterministischen, geschlossenen Geschichtsbild weichen.

Anstatt das Problem der möglichen Autonomie des Handelns bei Marx zu diskutieren, reagieren die Autoren mit einer Erklärung, warum es mit der Auffassung der „an die Naturgeschichte gemahnenden gesetzlichen Charakter“ (25) bei Marx schon seine Richtigkeit habe. Die Naturgesetzlichkeit der Geschichte sei nämlich keine positive Bestimmung, sondern drücke das vollkommene Bestimmtwerden der Menschen aus. Das Handeln der Menschen würde nämlich „unbewusst der Eigendynamik des Setzens und Lösens des Widerspruches zwischen dem Gebrauchswert und dem Wert der Waren folgen.“ (47) Wenn aber, wie die Autoren mehrfach versichern, das Handeln der Menschen durch diese Widersprüche und ihre Lösungsformen bestimmt sind, dann ist ihr Handeln substanziell heteronom. „Den Menschen ist das Gesetz des die Gesellschaft gestaltenden Handelns aus der Hand genommen.“ (73) Diese Aussage lässt doch an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig – sollten wir meinen. An anderen Stellen behaupten sie, im Gegensatz dazu, die Möglichkeit zum emanzipatorischen Handeln (vgl. 84). Was zuerst methodisch und analytisch ausgeschlossen wurde, wird später als bloßer Ausdruck von Gesinnung wieder eingeführt, die eigene Analyse wird durch eine bloße Erklärung außer Kraft gesetzt.  Und diese Inkonsequenzen soll eine Antwort auf die von Castoriadis aufgeworfenen Fragen sein?

Ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, dass die Autoren nicht bereit sind, sich auf die Themen von Castoriadis überhaupt einzulassen. Castoriadis wird uns permanent als Person ohne jedes Verständnis vorgeführt. Ungezählte Male - in manchen Passagen beginnt jeder dritte Satz derart - stoßen wir auf Formulierungen wie: Castoriadis kennt nicht… Castoriadis weiß nicht… Castoriadis hat nicht verstanden… Castoriadis weiß nichts von… Das ist albern. Castoradis entwickelt eine gewisse Sichtweise auf Marx, wir können sie durchaus kritisieren, aber doch nicht auf der Basis der Einschätzung, unser Autor hätte das „Kapital“ schlichtweg nicht verstanden. Um die elementare Unfähigkeit von Castoriadis aufzuzeigen, bemühen die Autoren unablässig ihre eigene, alles erhellende und korrekte Marxdarstellung. Sehr oft finden wir folgende Figur der Darstellung: Zuerst wird eine Passage von Castoriadis zitiert, in dem dieser ein Problem anspricht oder eine These setzt. Anstatt direkt darauf zu antworten, werden Passagen aus dem „Kapital“, vor allem die Wertformanalyse, paraphrasiert. Nicht einmal, fünfmal, zehnmal, … nein ununterbrochen. In ungezählten Anläufen wird jede Aussage von Castoriadis mit einer erneuten Darstellung der Wertformanalyse oder den Grundkategorien wie konkrete Arbeit oder abstrakte Arbeit usw. widerlegt und erneut unserem Autor völliges Unverständnis bescheinigt. Diese Darstellungen ihrer eigenen Auffassungen der Marxschen Kategorien sind ausgesprochen ermüdend. Selten kommen sie über die Wiederholung der immergleichen Formeln hinaus. Dazu als Bespiel ihre Kritik an der These, in der Antike gäbe es keine abstrakte Arbeit, Aristoteles hätte also nichts erkennen können, weil es nichts zu erkennen gab. Diese Auffassung vertritt Marx im „Kapital“. Die Autoren schlagen dagegen eine andere Sichtweise vor. Sie meinen: sobald es Warentausch gibt, gibt es auch die abstrakte Arbeit. Worin bestand aber die historische Schranke, von der Marx spricht, die Aristoteles daran hinderte, diese abstrakte Arbeit als gemeinsame Substanz des Wertes zu erkennen? Die Autoren: „Es ist die ‚Arbeit sans phrase’ die [im Kapitalismus, K.R.] ‚praktisch wahr’ geworden ist“ (248) und die es in der Antike so noch nicht gegeben haben soll. Was meint nun „Arbeit sans phrase“, wodurch unterscheidet sie sich von der abstrakten Arbeit? Wenn ich die Argumentation richtig verstehe, so bedeutet das „praktisch wahr“ werden schlichtweg: kapitalistisches Verhältnis. Ich vermute die Autoren meinen also folgendes: In der Antike gab es zwar Warenproduktion und daher auch die abstrakte Arbeit, aber die Gesellschaft war nicht durch und durch auf verallgemeinerter Warenproduktion aufgebaut, sie war also noch kein Kapitalismus. Der Stoffwechsel mit der Natur konnte noch nicht jene gesellschaftsbestimmende Rolle spielen, der ihm im Kapitalismus zukommt. So gesehen ergeben folgende Aussagen einen Sinn: Die Formel „Arbeit sans phrase“ soll es zwar für Marx „als ‚ewig gültigen Stoffwechsel zwischen Mensch und Natur’“ immer geben, „solange Menschen existieren“, diese Arbeit sans phrase ist „aber erst unter historisch spezifischen Bedingungen der kapitalistischen Gesellschaft praktisch wahr geworden“ (247). Nun lässt diese Formel zahllose Fragen offen. Anstatt nun zu erläutern, was diese spitzfindige Konstruktion eigentlich meint, wird diese Formel vom Wahrwerden der „Arbeit sans phrase“ unablässig in fast identischen Formulierungen wiederholt; bei der achten Wiederholung innerhalb von vier Seiten habe ich aufgehört zu zählen (245 – 249).

Im letzten Drittel des Buches beschäftigen sich Sommer und Wolf mit dem Essay: „Wert, Gleichheit, Gerechtigkeit, Politik. Von Marx zu Aristoteles und von Aristoteles zu uns“. Castoriadis spannt in diesem Artikel, wohl einem seiner besten, einen großen Bogen. Er beginnt mit seiner sehr wenig überzeugenden Darstellung einiger Probleme in der Marxschen Ökonomietheorie, kommt aber dann rasch auf sein eigentliches Anliegen zu sprechen: Es ist das geschichtsphilosophische Verhältnis von Arbeit und Kapitalismus. Konkret geht es um die Kategorie der abstrakten Arbeit, das Gemeinsame, die Substanz des Werts.

Nach Castoriadis sind es drei Versionen dieses Verhältnisses, die Marx gleichzeitig formuliert:

1. Der Kapitalismus produziert durch seine Verhältnisse die abstrakte Arbeit, die es im eigentlichen Sinne im Vorkapitalismus nicht gibt und ebenso im Kommunismus nicht mehr existiert. Nach meiner Auffassung ist dies auch die exakte Position von Marx, sie könnte unter anderem durch die längere Passage in den „Grundrissen“ belegt werden (MEW 42; Seite 38 – 39), in der Marx klar sagt, die abstrakte, wertbildende Arbeit würde ihre „Vollgültigkeit“ nur innerhalb der kapitalistischen Verhältnisse besitzen. Sommer und Wolf zitieren diese Passage von Marx und müssen sie zurückweisen, da sie nicht ihrem Verständnis von abstrakter Arbeit entspricht.

2. Der Kapitalismus lässt erscheinen, was schon immer da war. Die abstrakte Arbeit gab es immer schon, aber sie kommt erst im Kapitalismus zur Wirklichkeit. Castoriadis meint, Marx als Hegelianer müsse sich letztlich dieser Version anschließen. Das würde stimmen, wäre er ein Hegelianer. Diese zweite Version ist auch jene der so genannten Orthodoxie. Die abstrakte Arbeit hätte es immer schon gegeben, bestimme als Wertgesetz die kapitalistische Ökonomie hinter dem Rücken der Menschen und käme später im Sozialismus in wissenschaftlicher Planung, der Anwendung des Wertgesetzes, zu weiteren Ehren.

Als 3. Version nennt Castoriadis, dass der Kapitalismus den verschiedenen Arbeiten den Anschein des Selben gäbe. Diese Position ist letztlich auch seine eigene. Die konkreten Arbeiten und ihre Produkte sind und bleiben ungleich, eine Gleichsetzung ist eine rein gesellschaftliche imaginäre Bedeutung. Diese Position vertrete auch Aristoteles, deswegen sei er in diesem Punkt Marx überlegen. Ich habe seinerzeit argumentiert und bleibe auch dabei, dass, wenn wir Position eins für Marx „zulassen“, die Differenz zu Position drei nicht unüberbrückbar ist. Marx sagt ja selbst, der Wert und damit seine Substanz sei etwas durch und durch Gesellschaftliches.

Die Differenz zwischen Marx und Castoriadis löst sich in die Frage auf, was denn „etwas rein Gesellschaftliches“ (MEW 23; 71) meint. Castoriadis fokussiert auf den Gegensatz von physis (Natur, das von Natur gegebene, aber auch Notwendige und Unumgängliche) und nomos (Gesetz, gesellschaftliche Ordnung, gesellschaftliche Institutionen). Es fragt also: gehört die abstrakte Arbeit der Ordnung der physis oder dem nomos oder irgendwie beiden an? Das kann Marx, so Castoriadis, nicht klar beantworten. Daher schwankt er auch in der Frage, ob die Gesellschaft, vor allem die beste, anzustrebende Gesellschaft, von Natur aus (physei) gegeben ist, oder doch ein Werk des nomos, der instituierenden Autonomie, sein muss. Diese Passagen zählen für mich zum Besten und Interessantesten, was Castoriadis je geschrieben hat. Das lässt auch über einige recht flapsige Kritikpunkte an Marx zu Beginn des Textes hinwegsehen, zumal sie später nicht mehr aufgegriffen werden. Castoriadis führt diese Problematik weiter zu Fragen der Gleichheit und der Gerechtigkeit, um letztlich Marx auch dahingehend zu kritisieren, dass er den Kommunismus als Gesellschaft denkt, die weder Institutionen noch Probleme der Gerechtigkeit kennt. Dem gegenüber beharrt Castoriadis darauf, dass Gesellschaft sich niemals selbst transparent und durchsichtig werden kann, dass das Problem der distributiven Gerechtigkeit nie (völlig) verschwindet, dass also die Marxsche Formel „Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen“ eine Scheinlösung suggeriert. Auch bei dieser Frage reagieren die Autoren mit befremdlicher Uneinsichtigkeit in tatsächliche Probleme: „Die Durchsichtigkeit der Verhältnisse, die sich Marx vorstellen kann, kann es bei Castoriadis nicht geben.“ (132) Das stimmt und spricht für die Klugheit von Castoriadis. Es ist überdies die Frage, ob es diese Durchsichtigkeit der Verhältnisse auch für Marx selbst gibt. Marx spricht zwar davon, dass in einer freien Gesellschaft die Ökonomie rational geplant und gestaltet, also vom Menschen beherrscht wird, ob er aber diese Teilplanung als umfassende Planung der Gesellschaft denkt, wäre doch zu diskutieren. Denn eine Planung der Gesellschaft schließt natürlich eine Planung der Menschen, aus denen Gesellschaft ja schließlich besteht, ein. Ob wir die Produktion von Reis und Stahl planen, ist eine Sache, eine andere, ob wir die gesellschaftlichen Verhältnisse insgesamt planen wollen – für mich ein Unterschied zwischen Befreiung und totalitärem Alptraum. Ein Alptraum deswegen, nicht weil er funktioniert, sondern grausam scheitern muss. Aber wie kommentieren die Autoren diese völlig richtigen Überlegungen von Castoriadis? „Castoriadis gibt sich aufgeklärt realistisch, obwohl er gar nicht weiß, worum es geht.“ (132)

Die Autoren zitieren zwar seitenlang Passagen aus den Texten, gehen aber auf all diese Fragestellungen nicht ein. Castoriadis, so werden wir informiert, begreift einfach überhaupt nichts von Marx. Daher seien seine Überlegungen unsinnig und strotzten von Fehlannahmen und Unverständnis. Warum dann die Auseinandersetzung mit dieser Dumpfbacke? Bei manchen Passagen konnte ich das Gefühl nicht loswerden, Castoriadis sollte als bloßer Sparring Partner fungieren, um die eigene Auffassung darstellen zu können. Wenn ich mir aber so manche Lösungen der Fragen ansehe, kommen mir schon Zweifel, ob da die große Alternative vorliegt.

Sehen wir uns dazu ihre Lösung des Problems an, wieso und unter welchen Bedingungen ungleiche Arbeiten (also die Schneiderarbeit und Schusterarbeit) gesellschaftlich gleichgesetzt werden können. Ob es mir nun wirklich gelungen ist, die Essenz ihrer Auffassung wiederzugeben, sei dahingestellt. Einen Versuch möchte ich machen. Also: Wir müssen die ganze Problematik in zwei Schritten denken. „Erste Stufe“: Jedes Arbeitsprodukt ist zugleich Produkt von Arbeit schlechthin, Arbeit überhaupt. Die zweite Stufe bestünde darin, „dass die Menschen den Austausch der verschiednen Arbeitsprodukte vornehmen, worin diese als Produkte menschlicher Arbeit einander gleichgesetzt und auf  einander bezogen werden.“ (177) Warum können aber die verschiedenen Arbeitsgattungen einander gleichgesetzt werden, was hat Schneiderarbeit und Tischlerarbeit gemeinsam? Na was schon, scheinen mich die Autoren geradezu anzufauchen: Arbeitsprodukte können deswegen gleichgesetzt werden, weil sie „Produkte menschlicher Arbeit“ sind und „in dieser allgemeinen Eigenschaft einander gleichgesetzt und aufeinander bezogen werden.“ (177) Arbeitsprodukte sind Produkte von Arbeit (erste Stufe) und können deswegen problemlos im Tausch gleichgesetzt werden (zweite Stufe). Das habe Castoriadis nicht verstanden, daher wären auch die drei verschiedenen möglichen Fassungen der geschichtlich-gesellschaftlichen Gleichheit der Arbeiten Ausdruck seiner „banalen wie tollkühnen Interpretationskünste“ (225).

Schon um das Buch lesbarer zu machen, wäre ein entschlossenes Lektorat nötig gewesen. So hätte der Text sehr gewonnen, wenn die Autoren ihre Auffassung der Grundkategorien bei Marx knapp, kurz und thesenhaft an den Beginn des Buches gestellt hätten. Ich finde es schon legitim, schreibend zu denken, Wiederholungen und Umwege sind dabei unvermeidlich. Aber als Text, der zur Veröffentlichung geeignet sein soll, muss er doch nochmals Richtung Klarheit und Knappheit überarbeitet werden. Wie schlecht redigiert der Text offenbar ist, zeigt eine kleine Panne auf Seite 113. Nachdem gegen die Sozialisationstheorie bei Castoriadis zu Felde gezogen wurde, wird Habermas als Kritiker aufgerufen. „Habermas stellt zu dieser misslungenen Vermittlung von Individuum und Gesellschaft aus seiner kommunikationstheoretischen Perspektive fest:...“ (113) Im darauf folgenden Zitat zitiert Habermas aber zuerst Castoriadis, um dann einen kritischen Satz anzuhängen. Aber offenbar ist es niemandem aufgefallen, dass der längere Teil der zitierten Passage nicht aus der Perspektive der Kommunikationstheorie à la Habermas geschrieben ist und in keinem Fall eine Kritik an Castoriadis darstellen kann.

Michael Sommer, Dieter Wolf: Imaginäre Bedeutungen und historische Schranken der Erkenntnis. Eine Kritik an Cornelius Castoriadis. Hamburg: Argument Verlag, 2008, 268 Seiten, Euro 19,90

Montag, 15. Dezember 2008

Wozu dieses Buch?

Wie angekündigt, werde ich in der Folge einige Anmerkungen zu dem Buch Imaginäre Bedeutungen und historische Schranken der Erkenntnis. Eine Kritik an Cornelius Castoriadis von Michael Sommer und Dieter Wolf machen. Das Buch hat 260 Seiten und besteht aus drei umfangreichen Teilen. Es geht mir hier nicht darum (und es wäre im Rahmen eines „Blog“ wohl auch wenig sinnvoll), allem was da ausgebreitet wird – wovon Vieles übrigens auch recht wenig mit Castoriadis zu tun hat - , gerecht werden zu wollen und zu können. Notieren möchte ich nur einige Auffälligkeiten, die zum Gutteil für sich selbst sprechen dürften und die womöglich von etwas allgemeinerer Bedeutung sind, sowie einige daran anknüpfende Überlegungen – in der Hoffnung, dass diese Notizen zum Einstieg in eine Diskussion anregen.

Wozu also zunächst dieses Buch? Wie gesagt: 260 als „Kritik an Cornelius Castoriadis“ annoncierte Seiten. Angesichts dieses Aufwands notierenswert sind gleich zu Beginn gefällte vielsagende Urteile wie diese: „Theoretiker, die von einer (…) kritischen Auseinandersetzung mit Marx’ Theorie wesentliche Einsichten in die kapitalistische Gesellschaft erwarten, halten Castoriadis’ ‚schonungslose Kritik’ an Marx’ Theorie für so primitiv und falsch, dass ihnen eine weitere und eingehendere Beschäftigung mit Castoriadis’ politischer Theorie unergiebig und wenig sinnvoll erscheint. Andere Theoretiker, die der gleichen Meinung sind, was die Untauglichkeit der Kritik an Marx anbelangt, und dennoch bereit sind, sich mit der politischen Philosophie von Castoriadis auseinanderzusetzen, könnten schnell zu der Einsicht gelangen, dass diese überflüssig ist.“ (S. 11) Man fragt sich natürlich - einmal abgesehen davon, dass weder diese noch jene „Theoretiker“ namentlich genannt werden - , warum man sich dann eigentlich durch viele Seiten „Auseinandersetzung“ mit einer derart primitiven, falschen und überflüssigen Theorie quälen soll.

Beantwortet wird diese Frage im „Editorial“ des Buches, wo die Autoren als Motiv nicht nur eine „spürbare ‚Renaissance’ des Werkes von Cornelius Castoriadis“ (S. 6) anführen, sondern ihn auch einer „Tendenz“ zuordnen, die sich heute „in der Auseinandersetzung mit dem Kapital von Karl Marx“ bemerkbar mache (S. 5). Diese Tendenz repräsentiere eine „Kritik an ‚strukturfetischistischen’, für menschliches Handeln keinen Platz lassenden Interpretationen des Kapitals“ (S. 6) und klage Konzepte wie „Praxis“, „Kampf“ und „Widerspruch“ ein; als weiterer Vertreter einer solchen Tendenz wird John Holloway (z.B.: Die Welt verändern, ohne die Macht zu übernehmen, Münster 2002) ausgemacht (S. 5). Die ganze vermeintlich "anti-strukturfetischistische" Tendenz soll also getroffen werden. Aber außerdem geht es auch noch um einen „Beitrag zur Interpretation der Kritik der politischen Ökonomie“ sowie schließlich darum, „mit Hilfe des Marxschen Kapitals die Bedingungen einer emanzipatorischen Praxis aufzuzeigen“ (S. 6). Eine Kritik an Castoriadis? Castoriadis doch wohl eher als "Aufhänger" für Anderes. Hätte nicht, fragt man sich schon nach wenigen Seiten und weiter das ganze Buch hindurch, der korrektere Untertitel lauten müssen: "Eine Apologie des Kapitals“?

Der Ton, der hier die Musik macht, ist unmissverständlich: Castoriadis hat sich mit seiner „total falsch begründet(en)“ (S. 20) Theorie in „ebenso oberflächlicher wie tendenziöser Interpretation“ (S. 16) sowie mittels „vor Vagheit strotzende(r) Andeutungen“ (S. 21), nicht zuletzt „in denunzierender Absicht“ (S. 26), „ebenso absurd wie primitiv“ (S. 32 et pass.) vielfältigste „Verballhornungen“ und eine "platte und platt machende Kritik“ (S. 31) „zurechtphantasiert“ (S. 17). (Auf S. 32 habe ich die Markierung derartiger Qualifizierungen aufgegeben. Liege ich falsch, wenn ich da einen gewissen Einfluss der stilistischen Subtilitäten des Genossen Lenin herauszuhören meine?) Aber jenem Abgrund von Primitivität, Dummheit, Sinnlosigkeit und Hinterlist stehen sie eben zum Glück, klipp und klar und felsenfest, gegenüber: Die wahre Wissenschaft, d.i. der Eine Marx, - der „die ökonomisch-gesellschaftliche Wirklichkeit in einer für die Philosophen und Ökonomen unerreichbaren Breite und Tiefe erfasst“ hat (S. 23) und dessen Kapital „zum Verständnis der kapitalistischen Produktionsweise (…) nach wie vor den besten Beitrag“ liefert (S. 17, Anm. 31: eine zustimmend zitierte Formulierung von Michael Heinrich).

Damit sind die Rollen (bzw. Charaktermasken) verteilt. Weitere Worte über die entsprechenden Inhalte folgen in Kürze.

Donnerstag, 4. Oktober 2007

Der Anstieg der Bedeutungslosigkeit

„Autonomie oder Barbarei“ ist in den Texten von Band 1 der Ausgewählten Schriften - und vor allem im Interview "Der Anstieg der Bedeutungslosigkeit" - deshalb die zumindest implizite Leitformel, weil Castoriadis befürchtet, dass vor unseren Augen eine lange, durch Katastrophen, aber auch durch fruchtbare gesellschaftliche und politische Konflikte geprägte schöpferische geschichtliche Epoche zu Ende geht. Eine Epoche, die nicht nur den Triumphzug von Kapitalismus und Totalitarismus, sondern auch eine Renaissance und Fortentwicklung emanzipatorischer Bewegungen sah: der bürgerlichen Revolutionen, der Arbeiterbewegung, der Frauen-, Studenten- und Jugendbewegungen etc. – alles unterschiedliche Anläufe zur Institutionalisierung eines Entwurfs von Autonomie.

Eine dunkle historische Phase könnte diese Epoche vor unseren Augen ablösen - oder schon abgelöst haben - , gekennzeichnet von blinden Gewaltausbrüchen und gesellschaftlicher Desintegration, doch ohne geschichtliche Kreativität und Alternative. Für diese historische Tendenz steht bei Castoriadis – bereits in der ursprünglichen, klassischen Kampfformel "Socialisme ou Barbarie" – das Wort Barbarei. Die Texte in Autonomie oder Barbarei versuchen auch einige der wenigen heute noch erkennbaren Fluchtlinien einer Wiederaufnahme und Fortführung des kollektiven und individuellen Entwurfs der Autonomie zu markieren.

Die Einzelaspekte und natürlich die Angemessenheit und Stimmigkeit einer solchen - äußerst pessimistisch anmutenden - Diagnose wären zu untersuchen. Näher zu betrachten bleibt unter anderem, was der Topos der "Bedeutungslosigkeit" eigentlich alles bezeichnet - er verweist gewiss in erster Linie auf den für Castoriadis zentralen Begriff der "imaginären Bedeutungen" - als dem "Kern" von Gesellschaftlichkeit überhaupt. Welche theoretischen und praktischen Implikationen hat solch eine "Zeitdiagnose" einer Schwächung (?) des "Kerns" des Gesellschaftlich-Geschichtlichen?

Desweiteren sind die Überlegungen von Castoriadis zum Islam und der Rolle der arabischen Länder, die er in dem Interview (von 1993) vorbringt, nicht ohne Aktualität und Brisanz. Vielleicht sollte man sie einmal zusammenzufassen und gemeinsam zu bewerten versuchen?