Die Blindheit der Menschheit angesichts der katastrophalen Probleme, mit denen sie konfrontiert ist, ist beispiellos. Der Nichtigkeit der Politikerreden entspricht die Bedeutungslosigkeit der Themen, die die Intellektuellen, Politologen und Philosophen umtreiben. Die Zivilisation, der Reichtum und die »Demokratie«, über die sich alle endlos auslassen, sind das Vorrecht höchstens eines Achtels der Menschheit. Die restlichen sieben Achtel leben in Elend, Hunger und Tyrannei. Reichtum und »Demokratie« des ersten Achtels hängen von internationalen strategischen und ökonomischen Gleichgewichten ab, deren Anfälligkeit offensichtlich ist. Sie sind in Wahrheit erkauft durch irreversible Zerstörungen der Erde. Damit die einen weiterhin gemästet werden können und die anderen nicht gleich alle an Hunger sterben, werden die Wälder vernichtet, die Tiere und Pflanzen zu Zigtausenden ausgerottet, wird die Zusammensetzung der Atmosphäre, das Klima und die Temperatur von todbringenden Veränderungen bedroht und die Umweltverschmutzung zum allgemeinen Phänomen.
In den reichen Ländern ist psychische und moralische Verarmung an die Stelle materiellen Elends getreten. Nicht, dass letzteres verschwunden wäre; man hat geschafft, es auf 10 bis 20 Prozent der Bevölkerung zu konzentrieren. Der Rest kann sich so weiterhin der konsumistischen und televisuellen Selbstbefriedigung hingeben. Apathie, Zynismus, Verantwortungslosigkeit, Privatisierung und Gleichgültigkeit gegenüber den gemeinsamen Angelegenheiten sind die Charakteristika des zeitgenössischen »Zappanthropos«, eines neuen, rasch sich ausbreitenden Typus des Menschseins, verherrlichtes Produkt wie Bedingung der Herrschaft des »liberalen Individualismus« zugleich.
»Demokratische« Gesellschaften: In Wahrheit sind sie liberale Oligarchien. Liberal, weil sie die institutionellen Ergebnisse der großen demokratischen und sozialen Kämpfe der Vergangenheit bewahren. Oligarchien, weil die Zahl derer, die an der tatsächlichen (wirtschaftlichen, politischen und »kulturellen« Medien-) Machtausübung beteiligt sind, minimal ist. Von den [im Jahr 1989] 37 Millionen [erwachsenen] Bürgern Frankreichs zum Beispiel üben keine 37.000 Personen (eine von 1.000) irgendeine nennenswerte Macht aus. Die Zahl liegt wohl näher bei 3.700 (eine von 10.000) – eine Relation, die die römische Oligarchie vor Neid erblassen ließe.
Das bisschen politische Nörgelei und die geringfügigen Interessenunterschiede zwischen den Clans verdecken die grundsätzliche Solidarität der verschiedenen Gruppen, die Deals miteinander machen. Und während sie durch diese oder jene Maßnahme regelmäßig die Stimmen oder die Duldung einer in korporatistische Organisationen und Lobbys auseinanderfallenden Bevölkerung kaufen, verteidigt jeder krampfhaft, was er für seine Interessen hält. Das Ganze bildet offensichtlich ein System. Der Rückzug der Individuen ins Private stützt die Oligarchien, die diesen Rückzug ins Private wiederum aktiv fördern. Dahinter steckt keine Verschwörung: Diese Entwicklung ist nur möglich, weil diese Faktoren sich gegenseitig stützen. Unter diesen Umständen ist es naiv, sich zu fragen, warum es eine Spaltung zwischen Volk und »politischer Klasse« gibt. Die »Ideen« der Politiker sind mit bloßem Auge nicht zu erkennen; ihre durchaus vorhandenen Unterschiede sind mikroskopisch. Das Regime selbst – das »repräsentative« Regime – ist dafür gemacht, die Leute aus den öffentlichen Angelegenheiten herauszuhalten. Die wahre gesellschaftlich-geschichtliche Zeit – die Zeit der Ungewissheit und eines Entwurfs – ist verdeckt. Für die Zeit der Werbung gilt: »Morgen ist schon heute«, wie es ein wunderbarer Slogan von Philips ausdrückt.
Triumph des »liberalen« und »individualistischen« Imaginären. »Die Modernen erstreben Sicherheit der privaten Genüsse [jouissances]; sie bezeichnen als Freiheit die Rechtsgarantien, die die Institutionen diesen Genüssen gewähren«, schrieb Benjamin Constant 1819 zustimmend.(1) Genau da sind wir nun endlich gelandet. Aber wie lange wird man sich dieser Garantien, dieser Genüsse noch erfreuen? Das System funktioniert, weil es immer noch Arbeiter gibt, die Schrauben festdrehen, Lehrer, die lehren, Richter, die Recht sprechen – während nichts in der vorherrschenden Mentalität und »Moral« sie dazu motivieren könnte, so etwas zu tun. Das System überlebt, weil es menschliche Verhaltensweisen aus der Vergangenheit ausbeutet, die es zugleich lächerlich macht und die es nicht reproduzieren kann. Auf lange Sicht kann nicht einmal die kapitalistische Wirtschaft weiter funktionieren, wenn mit Spekulationsgeschäften oder dem Promoten von Madonna leichter Geld zu verdienen ist als mit der Gründung von Unternehmen.
Setzt er sich fort, kann der rasende Schlaf der Menschheit nur Ungeheuer gebären.
Anmerkungen
* »Le grand sommeil des ›democracies‹«, zuerst erschienen in:
L’Express vom 7. April 1989. Wiederabgedruckt in: Cornelius Castoriadis,
Écologie et politique, suivi de correspondances et compléments (Écrits politiques, 1945-1997, VII), herausgegeben von Enrique Escobar, Myrto Gondicas und Pascal Vernay,
Éditions du Sandre, Paris 2020, S. 405-407. Auf Deutsch zuerst erschienen:
Im Labyrinth, Nr. 4 (2020), S. 13-15. (Aus dem Französischen von Harald Wolf.)
(1) Benjamin Constant, »De la liberté des anciens comparée à celle des modernes« (dt.: »Über die Freiheit der Alten im Vergleich zu der der Heutigen«, in: Benjamin Constant,
Werke IV, Frankfurt/Berlin/Wien 1972, S. 363-396, hier: S. 381 f. Der von Castoriadis zitierten Formulierung gehen folgende Sätze bei Constant voraus: »Das, was die Alten anstrebten, war die Verteilung der staatlichen Gewalt unter alle Bürger eines Landes. Das war es, was sie Freiheit nannten.« Vgl. vor allem Cornelius Castoriadis, »Das griechische und das moderne politische Imaginäre« (1991), in:
Philosophie, Demokratie, Poiesis. Ausgewählte Schriften 4, Lich 2011, S. 93-121 (Anmerkung des Übersetzers).